«Kompetenzen vermitteln, die auch morgen noch relevant sind»
Thomas Merz ist Dozent für Medien und Informatik an der Pädagogischen Hochschule Thurgau (PHTG). Er ist mitverantwortlich dafür, dass der Bereich Medien und Informatik heute fester Bestandteil des Lehrplans 21 ist. Was dafür alles nötig war und wie die Umsetzung heute läuft, erzählt er im east#digital-Interview.
Thomas Merz, vor rund 11 Jahren waren Sie mitten in der Lehrplanarbeit und mussten noch für ein Fach «ICT und Medien» kämpfen. Gegen welche Widerstände müssten Sie damals hauptsächlich ankämpfen?
Hauptsächlich ging es um zusätzliche Belastung, die ein neues Fach ins Schulsystem brachte – Belastung von Lehrpersonen einerseits, finanzielle Belastungen der Schulträger anderseits. Im Projekt Lehrplan 21 war teilweise die Befürchtung, ein zusätzliches Fach könnte das ganze Lehrplanprojekt gefährden. Dahinter stand oft Unkenntnis, wie bedeutend die Kompetenzen im Bereich Medien und Informatik für das Leben in unserer Gesellschaft mittlerweile sind.
Was haben Sie den Kritikern damals entgegnet?
Meine Argumentation war zweifach. Einerseits argumentierte ich inhaltlich: Schule hat seit der Aufklärung die zentrale Aufgabe, Schülerinnen und Schüler zu Mündigkeit hinzuführen. Darum wurde in einer Buchkultur das Lesen und Schreiben so hoch gewichtet. Im Kontext einer durch digitale Medien tiefgreifend geprägten Gesellschaft von heute muss der Begriff von Lesen und Schreiben auch auf digitale Medien ausgeweitet werden. Ohne Kompetenzen im Bereich Medien, Digitalisierung und Informatik ist Mündigkeit heute aber undenkbar. Denken wir nur schon an die Bilder, die in der politischen Diskussion heute eine ganz zentrale Rolle spielen. Die systematische, kritische, kompetente Auseinandersetzung mit Bildern hat in der Schule aber ein deutlich zu tiefes Gewicht.
Und was war der zweite Teil Ihrer Argumentation?
Die war strukturell. Seit bald vier Jahrzehnten forderten Lehrpläne in vielen Schweizer Kantonen Medienerziehung, Medienpädagogik, Informatik und ähnlich. Alle Untersuchungen zeigten aber: Die Umsetzung war sehr unterschiedlich. An vielen Schulen geschah fast gar nichts. Das Thema wurde in Aus- und Weiterbildung zu wenig gewichtet. Und Lehrpersonen, die es umsetzen wollten, fragten oft, wo das im Schulalltag denn Platz hätte. Unter «Informatik» ging es oft um Computer-Anwendungsprogramme, vor allem Textverarbeitung, Präsentationen, einfache Google-Recherchen, manchmal sogar um Tastaturschreiben. Für mich war daher klar: Es braucht eine Verbindlichkeit im Lehrplan, es braucht geklärte Verantwortung für dieses zentrale Thema. Und es braucht definierte Unterrichtszeit. Erst das bringt die notwendige Dynamik.
Zu Beginn fehlte es unter anderem auch an Lehrmitteln. Damals gab es lediglich «inform@21» des Lehrmittelverlags St.Gallen. Warum hat man nicht zuerst die Lehrmittel aufgegleist, bevor man das Modul eingeführt hat?
Es gab durchaus auch andere Lehrmittel, aber auch das war für mich ein Grund, für ein Fach zu kämpfen. Denn Lehrmittelverlage sagten zurecht: Wir können doch nicht grosse Summen in ein Lehrmittel stecken, wenn es am Ende kaum genutzt (und entsprechend auch gekauft) wird. Es brauchte zuerst die Verbindlichkeit, die auch für Verlage einen entsprechenden Absatz garantierten.
Bis man solche Lehrmittel erstellt hat, vergeht jeweils immer eine gewisse Zeit. Wie aktuell sind diese Mittel noch, wenn sie erscheinen?
Die Veränderungen in Medien und ICT gehen ja bekanntlich sehr schnell. Das ist natürlich eine ganz grundsätzliche Herausforderung unserer Zeit: Wie können wir Schülerinnen und Schüler verantwortlich auf die Welt von morgen vorbereiten? Im Themenbereich Medien und Informatik ist diese Herausforderung besonders ausgeprägt. Wir verfolgen immer das Ziel, anhand der heutigen digitalen Medienwelt Kompetenzen zu vermitteln, die auch morgen noch relevant sind.
Wie konkret?
Wir arbeiten stets anhand aktueller Beispiele an langfristig bedeutsamen Kompetenzen. So setzen wir uns beispielsweise heute kritisch mit aktueller Berichterstattung bei Onlinemedien auseinander. Wie können wir den Wahrheitsgehalt einer Meldung überprüfen? Wer kommuniziert hier überhaupt? Wie aussagekräftig ist eine Kurzmeldung? Was muss ich noch wissen, um sie zu verstehen und einzuordnen? Welche Interessen stehen hinter einer bestimmten Meldung? Was sagt uns ein Bild? Sagt der Text dasselbe? – Wer so gelernt hat, sich kritisch mit Beiträgen in aktuellen Medien auseinanderzusetzen, kann ähnliche Fragen auch bei künftigen Medien stellen. Oder wer verstanden hat, warum Algorithmen bei Facebook dafür sorgen, dass emotionale Inhalte bevorzugt gezeigt werden, kann das Wissen auch auf neue Plattformen übertragen.
Und wie flexibel kann man im Unterricht selbst auf Neuerungen und/oder Veränderungen eingehen?
Ein Lehrplan kann ja vermutlich nicht so schnell angepasst werden. Genau, der ganze Lehrplan ist darum so formuliert, möglichst Neuerungen direkt auch aufzunehmen. Die erste Kompetenz im Bereich der Medienbildung ist denn auch, dass Schülerinnen und Schüler sich in ihrer eigenen medialen Umwelt zu orientieren lernen. Das heisst: Sie machen sich selbst ein Bild über die verschiedenen Medien und digitalen Tools, die ihnen zur Verfügung stehen. Sie lernen, wozu sie ein bestimmtes Medium nutzen können, sie setzen sich kritisch damit auseinander, fragen sich nach gesellschaftlicher Bedeutung usw. Der Lehrplan gibt also gewissermassen eine Gebrauchsanweisung, wie man auch an neue Themen, heute zum Beispiel ChatGPT, herangehen und sie für die Schule aufarbeiten kann.
Apropos Unterricht: Noch gravierender als die fehlenden Lehrmittel war zu Beginn die mangelnde Ausbildung der Lehrpersonen. Viele wussten weder, wie man Informatik unterrichtet, noch hatten sie in ihrer eigenen Schulzeit Informatik-Unterricht. Was wurde alles getan, um die Lehrpersonen besser auszubilden?
Wie ist der Wissensstand der Lehrkräfte heute? Es freut mich besonders, dass sich diese Erwartung, die wir an den Lehrplan geknüpft haben, erfüllt hat. Alle Deutschschweizer Kantone haben seit Einführung des Lehrplans grosse Weiterbildungsprogramme lanciert. Schulen haben Supportstrukturen aufgebaut oder weiterentwickelt. Es entstanden Lehrmittel und Unterrichtsmaterialien. Und auch in der Ausbildung erhielt das Thema eine neue Bedeutung. Viele Schulen haben sich in den letzten fünf Jahren in diesem Bereich sehr weiterentwickelt. Und neu geschaffen wurde auch ein Ausbildungsgang für Ausbildner, ein Masterstudium in Fachdidaktik Medien und Informatik. Aber klar: Das hohe Tempo der Veränderungen fordert auch gut ausgebildete Lehrpersonen stetig.
Heute ist das Modul «Medien und Informatik» ein fester Bestandteil des Lehrplans 21. Was konkret wird den jungen Menschen dabei mit auf den Weg gegeben?
Ganz grundlegend geht es darum, dass sie sich in einer durch und durch von digitalen Medien geprägten Gesellschaft fachlich kompetent, kritisch, kreativ, sozial verantwortlich und mündig orientieren und verhalten können. Dazu gehören sowohl die kritische Nutzung von Medien als auch die aktive Medienproduktion. Es gehört ein Grundverständnis von Informatik dazu, denn wir verstehen die Welt um uns herum immer weniger, wenn wir nicht ein Grundverständnis davon haben, wie Informatik funktioniert und welche Bedeutung sie in unserem Alltag längst hat. Und besonders gehört auch ein Verständnis dazu, welche Bedeutung Medien für unsere Gesellschaft, besonders unsere Demokratie haben.
Was sind aktuelle Projekte in diesem Bereich, mit denen Sie sich gerade beschäftigen?
Für uns an der PHTG ist natürlich klar: Aus- und Weiterbildungen im Bereich Medien und Informatik haben hohe Priorität. Es ist aber auch ein wichtiges Thema unserer Forschung. Beispielsweise lancierten wir schon länger ein grosses Forschungsprojekt, bei dem wir in enger Kooperation mit verschiedenen Schulen sowie mit dem Thurgauer Amt für Volksschule zukunftsfähige Unterrichtskonzepte entwickeln. Gerade diese Kooperation freut mich sehr, da wir damit ganz nah an der Schul- und Unterrichtspraxis sind.
Dazu gehört auch das Projekt Makerspaces, oder?
Genau. Dabei geht es darum, Schülerinnen und Schüler umfassend auf die Welt von morgen vorzubereiten. Neben Kompetenzen im Bereich Medien und Informatik gehören hier ausdrücklich umfassende Zukunftskompetenzen dazu: Schülerinnen und Schüler lernen, Probleme kreativ zu lösen, sie arbeiten zusammen, planen ihre Lernschritte, präsentieren ihre Lösungen in einem Pitch vor der Klasse, nehmen Rückmeldungen auf. Sie lernen aus Fehlern, sie organisieren sich in Arbeitsteams, müssen Durststrecken und Enttäuschungen aushalten usw. Wir haben hier ein tolles Projekt, das zutiefst pädagogische Anliegen mit Anliegen aus Wirtschaft und Gewerbe vereint. Denn gerade auch in der Arbeitswelt werden solche Kompetenzen in zunehmendem Mass gefordert.
Warum ist ein Fach «Medien und Informatik» überhaupt wichtig? Die heutigen Schüler sind ja alles Digital Natives und müssten sich in der digitalen Welt doch eigentlich bestens zurechtfinden.
Das wird immer wieder vermutet, zeigt sich bei Untersuchungen aber aus doppelter Hinsicht als falsch. Einerseits verblüffen Jugendliche sehr oft mit ihrem Anwendungswissen. Genaue Untersuchungen zeigen aber: Dieses Anwendungswissen beschränkt sich sehr oft auf die für sie häufigen Nutzungsformen. Vertieftes Anwendungswissen fehlt meist. Noch bedeutender ist: Nur weil sie Medien häufig nutzen, können sie sie noch nicht automatisch kritisch und kompetent nutzen. Dazu gehören Fragen wie die nach gesellschaftlicher Bedeutung, nach Medienwirkungen usw. Wie gewährleisten wir ein Informationssystem, das die notwendigen Informationsleistungen für eine Demokratie erbringt? Wie nutzen wir Social Media zu konstruktivem Diskurs und verhindern weitere Polarisierung? Welche Regeln brauchen wir als Gesellschaft, damit wir die Chancen künstlicher Intelligenz nutzen und die Risiken minimieren können? Das sind Fragen, die erfordern vertiefte Auseinandersetzung.
Wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf beim Modul Medien und Informatik?
Das grosse Tempo der Veränderungen wird es erfordern, dass das Thema weiter an Bedeutung gewinnt. Wenn wir in Aus- und Weiterbildung nicht mit der technischen Entwicklung Schritt halten, sind wir der Technologie ausgeliefert. Denn Technologie allein wird unser Leben nicht verbessern, nur weil sie da ist. Wir müssen stetig eine menschliche Gesellschaft unter neuen Bedingungen wieder neu gestalten. Dazu braucht es weitere Forschung und Entwicklung, die nah an den Schulen ist. Sicher bedeutet das weiterhin auch, viel Zeit auch in Aus- und Weiterbildung zu investieren. Es braucht weiter neue Lehrmittel, die jeweils zu den aktuellen Themen Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stellen. Und auf Ebene der Schulen werden in den nächsten Jahren sicher kreative Entwicklungen erfolgen, um die aktuellen und bevorstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Interview:
Patrick Stämpfli
Bild: Thomas Hary